Was hat Willingen, was andere so nicht haben?
Nach der Vierschanzentournee und der Skiflug-WM am Kulm in Bad Mitterndorf ist der Kult-Weltcup in Willingen der nächste Saisonhöhepunkt für die Skispringerinnen und Skispringer. Was hat den Weltcup auf der Mühlenkopfschanze zum Kult werden lassen? Was hat Willingen, was andere so nicht haben?
Die größte Großschanze der Welt
Hillsize 147 Meter, seit 1995 Austragungsort des FIS-Weltcups, der Höhenunterschied zwischen Auslauf und Anlaufturm beträgt 156 Meter, fast auf den Meter genau so hoch wie der Kölner Dom. Der Pole Klemens Muranka mit 153 Metern und die Slowenin Nika Kriznar halten die offizielle Schanzenrekorde. Unvergessen sind Janne Ahonens 155,5 Meter aus dem Jahr 2005, die nur als 152 Meter in die Annalen eingingen, weil die elektronische Weitenmessung nicht weiter reichte sowie Timi Zajc „Sturzflug“ auf 161,5 Meter im vergangenen Winter, als allen Offiziellen und Fans jeweils der Atem stockte.
Die rund 1.500 „Free Willis“
„Immer nur Lächeln und immer vergnügt“, heißt es in Franz Lehars Operette „Das Land des Lächelns“. Der Satz könnte das Motto der rund 1.500 freiwilligen Helfer („Free Willis“), die bei Regen oder Schnee, vor ausverkauftem Haus oder aber auch bei zwei „Geister-Weltcups“ ohne Publikum immer freundlich ihre Frau oder ihren Mann stehen. Für den erfahrenen und weitgereisten Schweizer FIS-Funktionär Bernie Schödler „eine ganz besondere Spezies. Hier in dieser Region wird Skispringen gelebt“, schrieb der Mann, der Simon Ammann groß machte, dem Ski-Club in sein Gästebuch. In Willingen sind alle mit Eifer bei der Sache, vom Bürgermeister über den Bankdirektor, Lehrer, Hotelier bis zum Polier, Studenten oder Schüler.
Von Goldberger bis Granerud
Die besten deutschen Skispringer wie Jens Weißflog, Dieter Thoma, Sven Hannawald, Martin Schmitt, Michael Uhrmann, Severin Freund, Richard Freitag, Andreas Wellinger, Karl Geiger, Markus Eisenbichler sprangen oder siegten sogar am Mühlenkopf, auch Trainer wie Werner Schuster, Ronny Hornschuh, Andreas Widhölzl oder Stefan Horngacher gingen in ihrer aktiven Zeit über den Willinger Bakken. Die Weltcup-Siegerliste am Mühlenkopf liest sich seit 1995 wie das „Who is who“ des Skispringens; von Andreas Goldberger bei der Premiere bis Halvor Egner Granerud fehlt kaum einer der ganz großen Namen, Weltmeister oder Olympiaseiger auf der Ehrentafel. Beispiele gefällig? Ahonen, Lindvik, Kasai, Küttel, Jacobsen, Morgenstern, Schlierenzauer, Romöeren, Stoch, Tande, Forfang im Einzel und im Team u.v.a.
Upland-Adler Stephan Leyhe
Die Geschichte ist eigentlich zu schön, um wahr zu sein. Für den Tigerenten-Club in der ARD durfte der Skisprung-Anfänger Stephan Leyhe aus Schwalefeld den vielumjubelten Grand-Slam-Sieger Sven Hannawald während seines Weltcup-Auftritts an der Mühlenkopfschanze interviewen. „Hanni“ gab dem kleinen Stephan Tipps mit auf den Weg, die dieser erfolgreich umsetzte und nach Olympia- und WM-Medaillen 2020 auch seinen Heim-Weltcup auf der Schanze im Stryck gewinnen konnte. Gestandene Männer schämten sich ihrer Tränen nicht. Ihr Upland-Adler, der im Schwarzwald lebt und trainiert, hatte einen Traum wahr werden lassen. Die Begeisterung darüber war ähnlich groß wie um die Jahrtausendwende, als Martin Schmitt und Hannawald den Mühlenkopf rockten.
Zuschauerrekord für die „Adlerinnen“
23.500 Zuschauer beim Damen-Weltcup bedeuteten 2023 einen Zuschauerrekord für die weltbesten Skispringerinnen, selbst bei der WM in Planica oder Olympia waren weit weniger Fans an den Schanzen. Als dann auch noch Katharina Althaus, inzwischen verheiratete Schmid, am ersten Tag gewann, kannte der Jubel keinen Grenzen und die Oberstdorferin schwärmt noch heute trotz ihrer Goldmedaillen von Planica über die einmalige Stimmung in Willingen.
Von Lauda, Neuer, Maske bis Schüttler oder Lange
Für die politische Prominenz mit den Landesvätern oder Regierungspräsidenten an der Spitze ist Willingens Weltcup Pflicht. Auch der heutige IOC-Präsident Dr. Thomas Bach war schon als Schirmherr an der Schanze, die nach ihrem letzten Neubau mit einem IOC-Award ausgezeichnet worden war. Auch die sportliche Prominenz lockte die Party im Upland an. Heiner Brand mit seinen Weltmeistern oder die Fußballer von Schalke 04, damals noch mit Manuel Neuer. Die Box-Weltmeister Henry Maske oder Markus Bayer, die Motorsport-Prominenz mit Nike Lauda, Gerhard Berger oder Ralf Schumacher oder die heimischen Stars von Petra und Jochen Behle über Rainer Schüttler, Carolin Schäfer bis Patrick Lange ließen sich im weiten Stadionrund von der Begeisterung vieler tausend Fans anstecken und jubelten den Adlern der Lüfte zu.
Party im Zelt und im Publikum
Party-Stimmung fast wie am Ballermann gehört neben den sportlichen Highlights zum Willinger Weltcup. Ob im Bierzelt mit meist bayerischer Volksmusik, wo schon manch Skisprung-Fan an der Theke das halbe oder ganze Weltcup-Spektakel auf der Schanze verpasst hat, das Sehen und Gesehen werden mit den fachsimpelnden Gesprächen in den VIP-Zonen und – Zelten bei erstklassigem Catering und Gastronomie macht Willingen ebenso aus wie die einmalige Stimmung unter den 23.500 bei Regen, Schnee oder Sonnenschein. Es waren HR-Diskjockeys um Gerd Glitter und Roy Rakete, die den Mühlenkopf nicht nur mit einer Hymne rockten, sondern auch für jeden Skispringer den passenden Song parat hatten. Der Wiener Walzer wurde eingespielt, wenn ein Österreicher an der Reihe war, Heidi erklang bei den Eidgenossen usw. Die DJs überbrückten selbst die längsten Regenpausen und sorgten beim Warten für Kurzweil. Schanzensprecher Gunnar Puk, der erfolgreich in die Fußstapfen seines verstorbenen Vaters Rainer Puk („Die Stimme vom Mühlenkopf“) getreten ist, hat ein Team um Jürgen Bangert und DJ Toni Kaufmann um sich geschart, das Jahr für Jahr mit einer eigenen Party-Play-List für Willingen an den Start geht und begeistert. Die Methode Willingen wurde inzwischen an vielen Schanzen der Welt kopiert.
Das „deutsche Zakopane“
Willingen hat sich stimmungsmäßig den Ruf als „deutsches Zakopane“ erworben. Der polnische Standort genießt einen ähnlich guten Ruf, was die Stimmung anbelangt. Auch ins Waldecker Upland strömen nicht nur Zuschauer aus Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Thüringen. Auch aus Skandinavien, Holland, aber vor allem aus Polen kommen die Fans ins Waldecker Upland. Viele in Deutschland lebende Polen nutzen die Gelegenheit, ihre heimischen Springer einmal live zu erleben.